In meiner Arbeit als online Psychologin setze ich immer wieder gerne Geschichten ein. Besonders gelungen finde ich die Geschichte vom Hammer, gerade wenn es darum geht, negative Gedankenspiralen zu verdeutlichen. Aber auch die Geschichte vom Holzfäller und die vom Hund auf den Nägel und viele der anderen Geschichten, die ich hier schon geteilt habe setze ich regelmäßig in meiner Arbeit ein.
Heute möchte ich Ihnen eine weitere Geschichte vorstellen und diese gar nicht weiter einführen, sondern erst mal für sich selbst sprechen lassen. Beobachten Sie dabei einfach mal, welche Reaktionen die Geschichte in Ihnen auslöst, welche Gedanken, Gefühle möglicherweise entstehen und was Ihnen noch so auffällt. Es gibt kein richtig oder falsch, nutzen Sie, wenn Sie möchten, die Geschichte einfach als eine kleine Übung der Selbstbeobachtung:
Im Sprechzimmer des Arztes saßen dicht gedrängt Menschen und warteten.
Ein älterer Herr stand nach einer Weile auf und ging zur Sprechstundenhilfe. „Entschuldigung.“ sagte er freundlich. „Ich hatte einen Termin um 10.00 Uhr. Jetzt ist es fast 11.00 Uhr. Ich möchte nicht länger warten. Bitte geben Sie mir einen neuen Termin.“
Im Sprechzimmer wurde getuschelt. Eine Frau sagte zu einer anderen: „Der ist doch bestimmt schon 80 – was kann der wohl so Dringendes vorhaben, dass er nicht warten kann?“
Der Mann hörte die Bemerkung und drehte sich um. Er verbeugte sich vor der Dame und sagte: „Ich bin siebenundachtzig Jahre alt. Und genau deswegen kann ich es mir nicht leisten, auch nur eine Minute der kostbaren Zeit zu vergeuden, die mir noch bleibt.“
[aus Gib Deiner Seele Zeit von Anthony de Mello]
Bevor Sie weiterlesen, halten Sie kurz inne und lassen Sie diese kleine therapeutische Geschichte übder den Wert der Zeit auf sich wirken…
Was ist Ihnen aufgefallen? Konnten Sie sich in der Geschichte wiederfinden? Als der alte Mann oder vielleicht doch eher als die Dame im Wartezimmer? Was ist Ihnen noch aufgefallen? Hat Sie der Ausgang der Geschichte überrascht?
In vielen Psychotherapien wird die Frage gestellt, was später mal auf unserem Grabstein stehen soll oder was wir uns wünschen, was unsere Familie und Freunde auf unserer Beerdigung sagen sollten. Richtig eingesetzt kann das eine sehr wirkungsvoll gedankliche Übung sein, die meist auch starke Emotionen hervorruft. Noch lieber stelle ich inzwischen meinen Klienten aber folgende Frage:
Stellen Sie sich vor, in 5 Jahren werden Ihre Familie und Freunde im Fernsehen interviewt und erzählen davon, was für ein Mensch Sie sind und die letzten Jahre waren… Was würden sie sich wünschen, was sollen die erzählen? Was für ein Mensch wären Sie gern?
Diese Frage führt im Beratungsgespräch oft sehr schnell zu einem tieferen Gespräch über die Werte des Klienten.
Was ist ihm wirklich wichtig? Wer möchte er eigentlich wirklich sein und was steht diesem aktuell im Weg?
Wie ist es bei Ihnen? Wenn wir mal hinter die Fassade schauen, was für ein Mensch sind Sie dann eigentlich? Was ist Ihnen wirklich wichtig? Was macht Sie im Kern aus? Wie gehen Sie mit Ihrer Zeit und Ihrem Leben um? Behandeln Sie diese als etwas wertvolles, wie es die oben stehende Geschichte nahe legt? Oder stehen Sie eher ständig unter Druck und haben den Eindruck, dass der Tag nie lang genug ist und die Woche zu wenig Tage hat?
Stehen Sie sich vielleicht selbst im Weg? Oft sind es unsere Gedanken und Gefühle, die uns so vereinnahmen, dass es uns kaum noch möglich ist unser Leben so zu leben, wie wir uns dies eigentlich wünschen würden.
Gerade in solchen Fällen kann ein Blick hinter die Kulissen helfen.
Lieber früher als später, denn die Zeit ist kostbar, nicht erst dann, wenn man 87 Jahr alt ist…
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Wie ist das bei Ihnen? Wie gehen Sie mir Ihrer Zeit um und was ist Ihnen wirklich wichtig? Hat die Geschichte in Ihnen eine spontane Reaktion ausgelöst? Ich freue mich auf Ihre Kommentare!
Eine gar wunderbare Geschichte! Ich liebe solche Geschichten und erzähle sie auch selbst gerne. Ich kann diesbezüglich das Buch von Jorge Bucay „Komm ich erzähl Dir eine Geschichte.“ empfehlen.
Der Blogbeitrag spricht mich sehr an. Ich habe just vor zwei Monaten beschlossen mein Leben zu verändern und endlich meine Zeit so zu nutzen, wie ich es mir wünsche und vorstelle. Dazu habe ich meinen jetzige Anstellung gekündigt und folge nun meinem inneren Drang nach Selbstständigkeit. Ein wunderbar befreiendes, mit kurzweiligen Ängsten, behaftetes Gefühl.
Aber genau wie der Mann im Arztzimmer, ist mri meine Zeit kostbar. Und ich möchte mich nicht eines Tages umsehen und mit erschrecken feststellen, dass ich an meinen Wünschen, Träumen und Bedürfnissen vorbeilebte.
Liebe Grüße
Wilhelm
Ja, aus dem Buch habe ich auch schon einige Geschichten hier vorgestellt, ein Klassiker der schönen und inspirirenden Geschichten!
viel Erfolg bei dem Neuanfang und vor allem natürlich ganz viel Zeit 🙂
Liebe Grüße aus Guatemala,
Sonia