Zu diesem Text wurde ich von einer Freundin und Kollegin aufgefordert, die selber dazu neigt deutlich mehr als 100% zu geben. Und doch ihren Arbeitstag damit verbringt ihren Patienten zu erklären, warum 60 Prozent mehr als genug sind. Ein klassischer Fall von “tu was ich sage, nicht was ich selber mache”. Ich kann mich gut an meine Ausbildungszeiten zur Psychologischen Psychotherapeutin erinnern, als ich neben einem 40-Stunden-Job in der Psychiatrie meine Wochenenden mit Theorie und dem Schreiben von Fallberichten verbracht habe. An mehreren Abenden pro Woche saß ich darüber hinaus in einer Praxis und behandelte Patienten. Jedes Mal, wenn wir dabei über Pausen, Work-Life-Balance und Selbstfürsorge sprachen, musste ich innerlich lächeln. War ich nicht mindestens so beschäftigt und an der Grenze zur Überlastung wie meine Patienten?
Auch später, als ich in der Forschung gearbeitet habe, gab es immer “mehr” zu tun. Ein Artikel, der gelesen oder geschrieben werden musste, ein Vortrag, der vorbereitet werden sollte, eine (oder eher viele) Emails, die beantwortet werden mussten. Dank flexibler Arbeitszeiten konnte ich morgens in Ruhe zu Hause arbeiten und später im Büro produktiv sein. Als jemand der nicht besonders gerne früh aufsteht, habe ich diese flexiblen Arbeitszeiten immer sehr genossen. Der Nachteil: es gibt keinen oder zumindest keinen ganz klar definierten Feierabend – man muss ihn sich selber gestalten. Und wer (wie ich) dazu neigt oft zu viel zu tun, der gerät schnell in Versuchung eben auch mehr tun. Ganz besonders dann, wenn es etwas ist, dass wir gerne tun. So ging es mir mit der Forschungsarbeit und so ging es mir auch mit meiner therapeutischen Arbeit und Weiterbildung. Ich mochte meine Arbeit (meistens zumindest) und so fiel es mir besonders leicht immer mehr zu tun – und immer näher an die Grenze zum Burnout zu geraten.
Aber zurück zu der Freundin. Alle paar Wochen meldet sie sich bei mir mit einer Idee, was sie noch alles zusätzlich machen könnte – eine weitere Ausbildung, ein weiteres Projekt. Meist endet das Gespräch darin, dass sie statt dessen lieber weniger tun sollte. Ihrem Körper zuliebe, ihrer Familie zuliebe, und vor allem: sich selbst zuliebe. Es muss nicht immer 100 % sein.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Produktivität und Geschäftigkeit belohnt wird. Wer nicht ständig am Limit operiert, der leistet nicht genug. Nur wer viel arbeitet, viel macht und ständig beschäftigt ist, wird als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft betrachtet. Und wer dann ausgebrannt im Burnout landet, der kann wenigstens vorzeigen, dass er vorher “gebrannt” hat.
Ich selber bin vor inzwischen über 1,5 Jahren aus meinem überaktiven, produktiven Leben ausgestiegen und bin auf Weltreise gegangen. Inzwischen arbeite ich als psychologische Beraterin online – und deutlich weniger als zuvor. Natürlich könnte ich auch hier immer noch viel mehr machen. Und die Balance zu finden fällt mir auch weiterhin nicht ganz leicht. Insbesondere da ich als Selbständige nur wenige von außen vorgegebenen Strukturen und Termine habe. Und da ich mich oft in anderen Zeitzonen als meine Klienten befinde, stellt mich auch dies vor neue Herausforderungen bezüglich Work-Life-Balance. Aber wenn ich eins gelernt habe in den letzten Jahren, dann ist es, dass das Leben deutlich lebenswerter ist, wenn ich nicht ständig am Limit operiere. Ich schlafe besser, ich genieße meinen Alltag mehr und arbeite schließlich auch mit mehr Freude. Und es gibt durchaus Tage an denen ich vermutlich mehr arbeite als je zuvor, aber dafür gibt es mindestens genauso viele Tage an denen ich deutlich weniger Arbeite. Und immer wieder feststelle, dass dies völlig in Ordnung ist.
Und dieses “weniger ist mehr” lässt sich am Ende natürlich nicht nur auf den beruflichen Alltag, sondern auf alle Lebensbereiche anwenden. Wir müssen nicht perfekt sein. Weder im Job noch zu Hause. Wir müssen nicht alles mitmachen und alles können. Probieren Sie es aus und schalten Sie einen Gang runter. Fahren Sie 10 km/h langsamer – im Auto und im Leben – und Sie werden sehen, dass die paar Minuten, die sie später ankommen überhaupt kein Problem sind. Im Gegenteil, sie werden entspannter und gelassener ankommen! Und auf dem Weg viel mehr von Ihrer Umgebung mitbekommen…